Trotz der herben Schlappe bei der Parlamentswahl in Großbritannien hält Premierministerin Theresa May an ihrem Machtanspruch fest und will das Land aus der EU führen. Am Freitag bat sie Königin Elizabeth II. um die Erlaubnis zur Regierungsbildung - obwohl die von May geführten Konservativen bei der Wahl die absolute Mehrheit der Mandate verloren hatten. Noch am selben Tag begannen erste Gespräche über eine Minderheitsregierung der Tories mit Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP).
Dieses Bündnis werde «Gewissheit» bringen und das Land durch die Brexit-Gespräche führen, die am 19. Juni beginnen sollen, wie May bekräftigte. DUP-Chefin Arlene Foster sagte, man wolle Möglichkeiten zur Stabilisierung des Landes sondieren. «Ich denke, es wird sicher Kontakt über das Wochenende geben.»
Die Abstimmung über die 650 Sitze im Londoner Unterhaus endete ernüchternd für die Konservativen, die weit unter den eigenen Erwartungen blieben. Sie sind zwar weiterhin stärkste Kraft, verloren aber ihre absolute Mehrheit. Nach Auszählung aller Stimmen konnten weder Tories noch Labour-Opposition die für eine Alleinregierung nötige Zahl von mindestens 326 Mandaten im Parlament erringen.
Die Konservativen kamen nach BBC-Angaben auf 318 Sitze, Labour auf 262. Die Schottische Nationalpartei SNP verfügt über 35 Sitze, die Liberaldemokraten über 12, die DUP über 10 Mandate. 13 entfielen auf andere Parteien. Das letzte Ergebnis aus dem Wahlkreis Kensington im Zentrum Londons stand erst am späten Freitagabend fest. Dort wurde wegen des knappen Ausgangs dreimal ausgezählt - die siegreiche Labour-Kandidatin hatte zuletzt einen Vorsprung von nur 20 Stimmen.
Die Wahl war auch eine Richtungsentscheidung über die umstrittenen Pläne zum EU-Austritt Großbritanniens. May, die einen harten Kurs ohne größere Zugeständnisse an Brüssel vertritt, hatte sich im April selbst für die vorgezogene Abstimmung ausgesprochen - mit dem Ziel, ihre Mehrheit zu stärken und Rückendeckung für die Brexit-Verhandlungen zu bekommen. Sie hatte das Amt des Regierungschefs von David Cameron übernommen, der nach dem Brexit-Votum der Briten im vorigen Jahr zurückgetreten war.
Labour will einen «weicheren» Brexit und eng mit der EU kooperieren. Parteichef Jeremy Corbyn forderte May am Freitag auf, ihren Posten zu räumen. Sie habe Stimmen, Sitze und Vertrauen verloren. Das sei genug, um «zu gehen und Platz zu machen für eine Regierung, die wirklich alle Menschen dieses Landes repräsentiert». Corbyn brachte eine eigene Minderheitsregierung ins Spiel. Die Liberaldemokraten schlossen Koalitionen aus. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, deren Partei ebenfalls Stimmenverluste verzeichnete, forderte, man müsse nun Abstand von einem «harten» Brexit nehmen.
Der Wahlausgang ist wichtig für die Austrittsgespräche mit Brüssel. Die Verhandlungen müssen bis Ende März 2019 abgeschlossen sein, sonst scheidet das Vereinigte Königreich ohne Vertrag oder Übergangsregelung aus der EU aus. Die Folgen für Wirtschaft und Bürger wären in diesem Fall kaum absehbar.
Bei der EU wächst die Ungeduld. «Soweit es die EU-Kommission betrifft, können wir mit den Verhandlungen morgen früh um halb zehn beginnen», sagte Kommissionschef Jean-Claude Juncker. «Wir warten also auf Besucher aus London.» Zeitplan und Positionen der EU dazu seien klar, betonte Verhandlungsführer Michel Barnier: «Lassen Sie uns die Köpfe zusammenstecken und einen Kompromiss finden.»
Die Briten hatten im März in Brüssel offiziell ihren Austritt erklärt. Juncker zeigte sich nicht bereit, über eine Fristverlängerung zu reden. Nach Einschätzung von Volkswirten ist ein harter Schnitt Großbritanniens mit der EU nach Mays Wahlschlappe vom Tisch. Eine Einigung mit London bei den Brexit-Verhandlungen sei wahrscheinlicher geworden, argumentierte Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer. «Der harte Brexit wurde gestern abgewählt».
«May wollte Stabilität erreichen und hat Chaos gebracht», schrieb der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU). Andere Europaabgeordnete spekulierten bereits, die Briten könnten nun doch in der EU bleiben. «Der Exit vom harten Brexit erscheint wieder als eine mögliche Perspektive», meinte der SPD-Politiker Jo Leinen.
In Deutschland waren die Reaktionen auf die Wahl gemischt. Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) meinte, May habe die Wahl zu einer Abstimmung über den Brexit gemacht: «Sie hat gesagt, sie will eine starke Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union. Die hat sie nicht bekommen.» Nach Gabriels Einschätzung ist die Botschaft: «Macht faire Gespräche mit der Europäischen Union - und überlegt noch mal, ob es eigentlich gut für Großbritannien ist, in dieser Art und Weise aus der Europäischen Union auszuscheiden.» Die stellvertretende Regierungssprecherin Ulrike Demmer sagte, man wolle den Ausgang noch nicht kommentieren und die weiteren Schritte in London abwarten.
SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz bezeichnete das Wahlergebnis als «schallende Ohrfeige» für Brexit-Befürworter. Im Londoner Parlament gebe es nun eine Mehrheit von Austrittsskeptikern. «Ich glaube, dass da jetzt eine große Dynamik reinkommt.» Europa brauche Solidarität und Kooperation und nicht die «Rückkehr zum Ultranationalismus», wie er in manchen Ländern «geradezu systematisch propagiert» werde. Der Chef der EU-feindlichen britischen Partei Ukip, Paul Nuttall, trat nach einem desaströsen Ergebnis seiner Partei bei der Wahl zurück.
An den Aktienmärkten sorgte das Ergebnis für Erleichterung. Auch aus Sicht der Anleger scheinen die Chancen auf eine Einigung bei den Brexit-Verhandlungen gestiegen zu sein. Der Dax ging mit einem Plus von 0,80 Prozent auf 12 815,72 Punkte aus dem Handel. In London legte der Leitindex FTSE 100 zunächst deutlich um fast 1 Prozent auf 7518 Punkte zu. Das britische Pfund setzte hingegen seine Talfahrt fort, stabilisierte sich aber am Nachmittag. (DPA)