Ein knappes Jahr nach dem Brexit-Referendum will sich die britische Premierministerin Theresa May mit einer Neuwahl für die EU-Austrittsverhandlungen rüsten. Die Parlamentswahl solle bereits am 8. Juni stattfinden, kündigte May überraschend an. Die konservativen Tories um May lagen in den jüngsten Umfragen weit vor der oppositionellen Labour-Partei. Dass es nach der Wahl noch einen Rückzieher vom Brexit geben könnte, gilt als ausgeschlossen.
Die Briten hatten sich am 23. Juni 2016 in einem Volksentscheid mit knapper Mehrheit für einen Ausstieg aus der EU ausgesprochen.
Das Parlament soll an diesem Mittwochnachmittag über die Neuwahl abstimmen. Es werde sich von ca. 13.45 Uhr (MESZ) an mit dem Antrag der Regierung befassen, teilte eine Parlamentssprecherin mit. Wann genau die Abstimmung stattfinden wird, war zunächst unklar. May benötigt eine Zweidrittelmehrheit im Unterhaus.
Labour-Chef Jeremy Corbyn deutete an, dass seine Partei für die vorgezogene Neuwahl stimmen wird. Und das, obwohl Labour tief zerstritten und in den Umfragen abgeschlagen ist. Mit den Stimmen von Labour wäre May die nötige Mehrheit sicher.
Das Parlament sei uneins über den geplanten EU-Austritt ihres Landes, begründete May den Schritt. «Das Land kommt zusammen, aber Westminster tut dies nicht», sagte sie. Ohne Einigkeit drohe Unsicherheit und Instabilität, Großbritannien brauche eine starke und stabile Führung. «Großbritannien verlässt die Europäische Union und es kann kein Zurück geben», betonte May.
Die konservative Politikerin hatte Neuwahlen bislang ausdrücklich ausgeschlossen. Die Premierministerin musste sich aber immer wieder gegen Vorwürfe wehren, sie habe kein Mandat. May war im Juli 2016 von ihrer Partei ins Amt gewählt worden, nachdem ihr Vorgänger David Cameron nach dem Brexit-Votum am 23. Juni zurückgetreten war. Der äußerte sich nun positiv zu dem Plan. Dies sei eine mutige und richtige Entscheidung, schrieb Cameron bei Twitter.
EU-Ratspräsident Donald Tusk verglich die neueste Wendung mit einem Hitchcock-Thriller. «Hitchcock hat beim Brexit Regie geführt: Erst ein Erdbeben und dann steigt die Spannung», twitterte Tusk.
Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) hofft auf Klarheit durch die Neuwahl. Er sagte der Funke Mediengruppe: «Jede längere Ungewissheit tut den politischen und den wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Europa und Großbritannien sicher nicht gut.»
Regulär hätte erst wieder im Jahr 2020 gewählt werden sollen. Jüngste Umfragen deuten darauf hin, dass Mays Konservative einen erheblichen Vorsprung vor der oppositionellen Labour-Partei hat. Das Institut YouGov sah die Konservativen in ihrer Umfrage vom 12./13. April bei 44 Prozent der Stimmen. Labour von Corbyn kam auf 23 Prozent. Die Hälfte der Wähler favorisierte May (50 Prozent) vor Corbyn als Regierungschefin. Der Labour-Chef wurde von 14 Prozent unterstützt.
Dem Politikwissenschaftler John Curtice von der schottischen Universität Strathclyde zufolge könnte Mays Mehrheit aber auch geringer ausfallen. Die Kernfrage sei nun, ob Corbyn seine Labour Partei einen könne - auch in Bezug auf den EU-Austritt Großbritanniens, sagte Curtice der BBC.
Erst Ende März hatte May offiziell die Austrittserklärung ihres Landes aus der EU vorgelegt. Dem Vertrag von Lissabon zufolge hat die britische Regierung zwei Jahre Zeit für die Austrittsgespräche. Diese Frist läuft im März 2019 ab. May hat einen harten Kurs für die Verhandlungen mit Brüssel angekündigt. Das Land soll sowohl den Europäischen Binnenmarkt als auch die Zollunion verlassen.
In Brüssel befürchtet man keine Verzögerungen durch die Wahl. Die Pläne der anderen 27 EU-Staaten änderten sich nicht, erklärte der Sprecher von EU-Ratspräsident Donald Tusk auf Anfrage. Die detaillierten Verhandlungsleitlinien für die EU-Kommission sollten am 22. Mai vorliegen, danach könnten die Gespräche mit London beginnen.
Ungemach droht May aus Schottland und Nordirland: Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte im Streit um den Brexit bereits ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum an. May weigert sich bislang mit Sturgeon darüber zu verhandeln. Die Schottin sieht im Schritt für eine britische Neuwahl eine mögliche Fehleinschätzung von May. Die Schotten hätten nun eine weitere Möglichkeit, die spaltende Politik der Konservativen zurückzuweisen, sagte Sturgeon. Nordirland steckt in einer Regierungskrise, bei der kein Ende absehbar ist. Die katholische pro-republikanische Sinn-Fein-Partei hat bereits ein Referendum über die Vereinigung mit der Republik Irland gefordert.
Der Internationale Währungsfonds korrigierte unterdessen seine Wachstumsprognose für das Vereinigte Königreich nach oben. Damit sind praktisch alle Korrekturen, die der IWF wegen der Risiken des Brexit-Votums vorgenommen hat, wieder aufgehoben. «Wir haben den befürchteten steilen Abfall von Konsumverhalten nicht gesehen», sagte IWF-Chefvolkswirt Maury Obstfeld in Washington. Der Prognose zufolge wird Großbritanniens Wirtschaft im laufenden Jahr um zwei Prozent wachsen. Dies ist ein halber Prozentpunkt mehr, als der IWF noch im Januar vorhergesehen hatte und fast ein Prozentpunkt mehr als in der Prognose vom Oktober vergangenen Jahres. (DPA)