Der Internethandel in Deutschland boomt, viele Innenstädte dagegen leeren sich. «Prognosen, wonach bis 2020 rund 50 000 Geschäften das Aus droht, sind nicht übertrieben. Das wird eher die Untergrenze sein», warnt der Handelsexperte Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein. Für den Branchenkenner steht fest: «Das eigentliche Drama wird sich in den Klein- und Mittelstädten abspielen.» Heute entfallen auf sie noch knapp 50 Prozent der Einzelhandelsumsätze.
Doch wenn nichts geschehe, werde der Erfolg des Online-Handels hier zu existenzbedrohenden Umsatzrückgängen führen, ist Heinemann überzeugt. «Schon heute sind Leerstandsquoten von 40 Prozent in Klein- und Mittelstädten keine Ausnahme mehr», so Heinemann in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.
Ähnlich sieht Boris Hedde vom Kölner Institut für Handelsforschung (IFH) die Lage. «Der stationäre Handel wird bis 2020 wahrscheinlich 20 bis 40 Milliarden Euro an Umsatz an die Online-Konkurrenz verlieren», prognostiziert der Experte. «Es ist ein harter Verdrängungswettbewerb.»
Der IFH-Geschäftsführer fügte noch hinzu, die Digitalisierung sei nicht das Einzige, was dem stationären Handel in den nächsten Jahren zusetzen werde. «Die demografische Entwicklung und der damit verbundene Bevölkerungsrückgang in vielen Regionen werden wie ein zweiter Tsunami über die Branche hinwegfegen», glaubt er. Vor allem in den ländlichen Regionen, in den Klein- und Mittelstädten würden dadurch viele Geschäfte ihrer Existenzgrundlage beraubt.
Tatsache ist: Der Online-Handel in Deutschland glänzt nach aktuellen Zahlen des E-Commerce-Verbandes bevh weiterhin mit zweistelligen Wachstumsraten. Besonders stark wachsen reine Internethändler wie Amazon oder Zalando mit einem Plus von 30 Prozent. Die Multichannel-Anbieter, zu denen vor allem klassische Händler gehören, die Internet und stationäre Angebote verbinden, legten zuletzt um gut 10 Prozent zu. Die Online-Marktplätze um gut 7 Prozent.
Dagegen klagen die Geschäfte in den Innenstädten über sinkende Kundenzahlen. Im stationären Modehandel sanken die Umsätze im ersten Halbjahr trotz der eigentlich überbordenden Kauflust der Bundesbürger noch einmal um ein Prozent, wie das Fachblatt «Textilwirtschaft» ermittelte. «Wir hatten mehr erhofft, aber die Kunden bleiben einfach weg», zitierte das Fachblatt einen bayerischen Händler.
Und die Probleme werden wohl nicht geringer werden. Denn zurzeit versuchen die Internethändler einen der letzten verbliebenen Vorteile des stationären Handels - die sofortige Verfügbarkeit der Ware - zu kopieren, indem sie in immer mehr Städten die Belieferung noch am Tag der Bestellung anbieten.
Für Heinemann, der in Kürze ein Buch über die «Neuererfindung des Einzelhandels» veröffentlichen wird, ist der Online-Handel aber nicht nur eine Gefahr für die klassischen Ladenbetreiber, sondern auch eine Chance. «Das Projekt «Mönchengladbach bei Ebay» hat gezeigt, dass der lokale Händler sich vom Online-Kuchen etwas abschneiden kann, wenn er seine Internetallergie ablegt.»
An dem 2015 in Mönchengladbach gestarteten Projekt, bei dem Heinemann mit seinem Institut eWeb Research Center maßgeblich beteiligt war, hatten insgesamt 79 lokale Einzelhändler teilgenommen und ihr Sortiment ganz oder teilweise auch auf dem Online-Marktplatz Ebay angeboten.
Insgesamt seien zwischen Oktober 2015 und Juni 2016 über die Plattform mehr als 87 500 Artikel im Gesamtwert von über 3,2 Millionen Euro in 84 Länder verkauft worden. Für jeden aktiven Händler bedeute dies ein durchschnittliches zusätzliches Jahresumsatzplus von rund 90 000 Euro. «Das kann helfen, den Umsatz stabil zu halten», betonte Heinemann.
Ein wenig Mut machen kann den «klassischen» Geschäften auch eine vor wenigen Tagen veröffentlichte Studie der Unternehmensberatung PwC. Danach hat der stationäre Handel selbst da Fans, wo man sie am wenigsten erwarten würde: Unter den «Digital Natives», den Internetnutzern zwischen 18 und 24 Jahre. Fast zwei Drittel von ihnen versicherten in der repräsentativen Umfrage, sie würden am liebsten im stationären Handel einkaufen. Auch wenn die Zeiten schwierig sind: Das Totenglöcken muss für den stationären Handel wohl auf absehbare Zeit nicht geläutet werden. (DPA)