Wer schon einmal ein Video auf YouTube hochgeladen hat, kennt das vielleicht. Im Clip ist ein bekannter Song enthalten, etwa als musikalische Untermalung oder Karaoke-Darbietung - und wenig später landet eine E-Mail von YouTube im Postfach. «Ein Rechteinhaber, der Content ID verwendet, beansprucht Inhalte in Deinem Video», heißt es darin. Und: «Keine Sorge, Du bekommst keinen Ärger.» Der Clip müsse nicht gelöscht werden, allerdings verdiene der Rechteinhaber an den Werbeeinnahmen, die rund um das Video generiert würden.
Laut YouTube haben sich im Musikbereich inzwischen 95 Prozent der Songrechteinhaber dafür entschieden, via Content ID Geld zu verdienen. Und: Mehr als 50 Prozent der Umsatzes der Musikbranche auf YouTube würden auf diesem Weg erzielt. Lange Zeit litt die Branche arg unter der Piraterie im Internet. Ist ein solcher «digitaler Fingerabdruck» nun der Weg, um auch auf Gratis-Plattformen gutes Geld zu verdienen?
«Nein», sagt Florian Drücke vom Bundesverband Musikindustrie (BVMI). Maßnahmen wie Content ID reichten nicht aus. «Es muss endlich klargestellt werden, dass auch Online-Plattformen wie YouTube Lizenzen für ihre Inhalte zahlen müssen - so, wie es Spotify, Apple Music oder Deezer tun», fordert er.
Wie funktioniert Content ID genau? Die Rechteinhaber können Songs, aber auch Kinofilme oder Sport-Livestreams zu YouTube als sogenannte Referenzdatei übertragen. Daraus wird dann eine Art digitaler Fingerabdruck erstellt, mit dem das Material wiedergefunden werden kann. Der Datenpool der Google-Tochter umfasst derzeit etwa 50 Millionen Referenzdateien mit einer Gesamtdauer von rund 600 Jahren. Dem gegenüber stehen die 400 Stunden Material, die minütlich weltweit auf die Videoplattform hochgeladen werden. Die Daten werden miteinander abgeglichen. Kommt es zu einem Treffer, werden beide Seiten darüber informiert. Der Rechteinhaber hat die Möglichkeit, seinen Inhalt zu blockieren – oder damit Geld zu verdienen.
Im Google-Entwicklungszentrum in Zürich, dem größten außerhalb der USA, wird das System optimiert. 1800 Mitarbeiter aus 75 Nationen sind auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei beschäftigt. Um Teamgeist, Kreativität und die Identifikation mit dem Arbeitgeber zu fördern, werden jede Menge Annehmlichkeiten geboten. Dreimal am Tag gibt es kostenfrei frisches Essen, wobei Google empfiehlt, eine Mahlzeit täglich zu Hause einzunehmen. Fitnessstudio, Billardzimmer und Tischkicker sind ebenso selbstverständlich wie ein Partyraum mit Bühne und Instrumenten oder eine Games-Ecke mit Spielekonsolen. Wer müde ist, legt im «powernap-room» vor großen Aquarien ein Nickerchen ein. Auf eigene Kosten kann man einen Massage- oder Friseurtermin im Haus vereinbaren.
In dieser bunten Google-Welt wird an der Weiterentwicklung von Google Maps oder des Panoramadienstes Street View, am Google-Assistent gearbeitet, oder eben an Content ID von YouTube. Die immer intelligentere Technik führe zu einer immer schnelleren und präziseren Bild- und Sounderkennung, sagt Projektmanager Fabio Magagna. Auch abgewandelte Bilder, etwa in Schwarz-Weiß oder mit gespiegelten Motiven würden erkannt. Das betreffe auch die Musik. Der Experte verweist auf das Video «Smells like Nerd Spirit» in dem der Nirvana-Hit «Smells like Teen Spirit» ausschließlich von einem «Orchester» aus Computer-Hardware gespielt wird - auch daran verdienten die Rechteinhaber Geld.
«Der Computer lernt dadurch, wie er gefüttert wird», erklärt Magagna. Es ist ein bisschen wie in der Erziehung. Was Du den Kindern beibringst, bekommst Du zurück.» Von alleine könne die Maschine keinen Hund von einer Katze unterscheiden. Aber indem man einen Computer mit vielen Motiven speise, werde er immer besser.
Über Content ID wurden laut YouTube bisher zwei Milliarden Dollar an die Rechteinhaber ausgeschüttet. Natürlich verdient auch das Unternehmen selbst kräftig mit. Genaue Zahlen werden nicht genannt – nur dass mehr als die Hälfte der Erlöse an die Rechteinhaber gehe.
Aus der Musikindustrie wird allerdings immer wieder Kritik laut, dass YouTube gemessen an seiner Größe zuwenig Geld abgebe. Ende Juni spitzte sich der Streit zu, als sich über 1000 Musiker - darunter Stars wie Coldplay, Lady Gaga oder Ed Sheeran - bei der EU-Kommission beschwerten, dass Dienste wie YouTube mit ihren breiten Gratis-Angeboten die Musik entwerteten. Kurz zuvor war ein ähnliches Schreiben, unterzeichnet unter anderem von Taylor Swift und U2, an den US-Kongress gegangen.
Zum Vergleich: YouTube hat über eine Milliarde Nutzer. Beim Streaming-Marktführer Spotify sind es nach jüngsten verfügbaren Zahlen rund 100 Millionen - von denen sich mehr als zwei Drittel mit der werbefinanzierten Gratis-Version begnügen. Die Nummer zwei im Streaming-Geschäft, Apple Music, kommt gut ein Jahr nach dem Start auf rund 15 Millionen zahlende Abo-Kunden. In dieser Situation schießt sich die Musikbranche schon seit einiger Zeit auf YouTube ein, wo viele Songs gratis zu finden sind. Zugleich stellen die Musikkonzerne selbst frische Videoclips bei YouTube rein, um die Songs populärer zu machen. Aktuell laufen neue Lizenzverhandlungen zwischen den Musikfirmen und YouTube.
«Laut einer aktuellen Studie unseres Dachverbandes wird YouTube von 82 Prozent seiner Konsumenten genutzt, um Musik zu hören – damit ist es der größte On-Demand-Musikdienst der Welt», sagt BVMI-Chef Drücke. «Trotzdem zahlt Spotify jährlich geschätzte 18 US-Dollar für jeden Nutzer, YouTube weniger als einen. Das erzeugt einen unfairen Geschäftsvorteil, durch den gleichzeitig der Wert von Musik unterminiert wird.» YouTube will diesen Vergleich nicht gelten lassen: Man könne nicht Dienste, die zehn Dollar im Monat kosten, mit einem werbefinanzierten Angebot vergleichen. «Das ist wie wenn ich die Einnahmen eines Taxifahrers durch seine Kunden mit den Einnahmen durch die Werbung im Taxi vergleiche», sagt YouTube-Manager Christophe Muller.
Auch Content ID ist für den BVMI und dem globalen Musikverband IFPI kein Ersatz für eine «sachgerechte Lizensierung». Das System stelle einen begrenzten Wirkungsbereich dar und funktioniere unzureichend, da es vom Nutzer leicht umgangen werden könne, so die Kritik.
Auch wenn laut YouTube 98 Prozent der copyright-relevanten Inhalte durch Content ID aufgespürt werden, rutscht immer wieder etwas durch den Filter. Um das System auszutricksen, hatten Nutzer zuletzt geschützte Kinofilme in 360-Grad-Videos eingebettet – die Inhalte blieben unerkannt. «Nach eineinhalb Wochen war die Lücke geschlossen», sagt Magagna. «Aber es bleibt ein Katz-und-Maus-Spiel.» (DPA)