Ein völlig bedienter Bundestrainer Joachim Löw verschwand als Erster in die Katakomben, seine geschlagenen WM-Helden standen dagegen noch Minuten später schockiert vor der deutschen Fankurve und suchten nach Gründen für den EM-K.o. Kurz zuvor war auf bittere Weise die Hoffnung auf das historische Titel-Double geplatzt. Ein Missgeschick von Bastian Schweinsteiger und der erste Turnier-Patzer von Manuel Neuer besiegelten im EM-Halbfinale das Aus für die entkräftete Mannschaft von Löw.
Stattdessen ebneten die beiden Tore von Mittelfeldstar Antoine Griezmann Gastgeber Frankreich den Weg ins EM-Finale gegen Portugal. Die deutsche Nationalmannschaft war nicht in der Lage, mit einem weiteren Kraftakt das 0:2 (0:1) und den Halbfinal-K.o. in Marseille abzuwenden.
Das Team von Löw konnte am Donnerstag in einem Spiel auf Augenhöhe die zahlreichen Ausfälle am Ende nicht mehr kompensieren. Auch Abwehrchef Jérôme Boateng musste noch vorzeitig verletzt vom Platz. So war es Superstar Griezmann, der mit zwei Toren (45.+2 und 72.) die 200. Niederlage einer deutschen Mannschaft besiegelte. Vorausgegangen war vor dem ersten Tor ein folgenschweres Handspiel von Schweinsteiger. Für Griezmann waren es bereits die Turnier-Treffer Nummer fünf und sechs, für die Franzosen die geglückte Revanche für mehrere WM-Pleiten gegen den alten Rivalen, wie zuletzt beim 0:1 vor zwei Jahren im Viertelfinale.
Eine Niederlage, die unnötig war, fand Joachim Löw. «Wir haben ein klasse Spiel gemacht und waren besser als der Gegner. Die Mannschaft ist dominant aufgetreten und hat die Franzosen zurückgedrängt. Wir haben mit Kraft, mit Mut, mit Selbstbewusstsein und mit großer Stärke gespielt. Ich kann keinem einen Vorwurf machen», sagte Löw und sprach trotzdem von einer guten Turnierleistung.
Seine Spieler sahen es ähnlich. «Wir haben das beste Spiel bei der EM gemacht, auch wenn es blöd klingt. Das ist bitter. Wir hatten gute Möglichkeiten und haben hervorragend Fußball gespielt», haderte Toni Kroos und Neuer ergänzte: «0:2 ist kein faires Ergebnis. Wir hatten die Möglichkeit nach dem 0:1 zurück ins Spiel zu kommen. So wie Frankreich in der ersten Halbzeit aufgetreten ist, hat man nicht viel gesehen. Wir haben eine gute EM gespielt, aber wir sind ausgeschieden. Das ist bitter.» Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff zeigte sich «fassungslos und unglücklich». Von den Spielanteilen her hätte die DFB-Auswahl das Spiel gewinnen müssen. «Irgendwie sollte der Ball heute nicht rein. Wir müssen die Niederlage akzeptieren.»
Im 28. Klassiker zwischen Frankreich und Deutschland gingen die Gastgeber furios und euphorisiert ins Spiel. Die französische Offensive übte gleich großen Druck aus und wäre fast schon früh belohnt worden, als Griezmann zwei Spieler aussteigen ließ und Neuer zu einer Parade zwang. Eine derartige Phase hatte die deutsche Mannschaft in diesem Turnier noch nicht erlebt.
Es dauerte zehn Minuten, ehe der Weltmeister den Schwung der Franzosen unterbinden und selbst sein taktisches System durchbringen konnte. Löw hatte dabei mit einer neuen Variante überrascht. Dass Schweinsteiger erstmals die deutsche Mannschaft bei der EM auf das Feld führen würde, hatte er vorher schon angekündigt. Neu war aber, dass Emre Can an seiner Seite im Mittelfeld zusammen mit Toni Kroos zu seinem ersten Einsatz kam. Damit kehrte Löw erstmals zum erfolgreichen 4-3-3-System von der WM 2014 zurück, das die deutsche Elf ab dem Viertelfinale bis zum Triumph von Maracana gespielt hatte.
Und das taktische System ging auf. Schweinsteiger agierte als Abfangjäger vor der Abwehr und hinterließ lange einen starken Eindruck. Der Kapitän stand fast immer richtig und brachte Ruhe und Ordnung ins deutsche Spiel. Durch die Überlegenheit im Mittelfeld konnte die DFB-Auswahl die schnellen Gegenzüge der Franzosen gut unterbinden und erarbeitete sich selbst ein deutliches Übergewicht.
Die ersten Chancen ließen nicht lange auf sich warten. Erst war es der bei dieser EM so glücklose Thomas Müller, der den Ball nicht richtig traf (13.). Dann hatte Can die große Chance zur Führung, den Schuss des Liverpool-Profis fischte Hugo Lloris aber noch aus dem unteren Toreck. Die deutsche Mannschaft drängte die Franzosen in die eigene Hälfte zurück, auch weil die beiden Außenverteidiger Jonas Hector und Joshua Kimmich extrem hoch standen.
Was fehlten, waren aber die klaren Torchancen - sei es bei einem Schuss von Schweinsteiger (26.) oder als Julian Draxler und Müller nach einer Hereingabe den Ball nicht unter Kontrolle bringen konnten (32.). Szenen, die aber trotzdem zeigten, dass die Franzosen defensiv verwundbar waren.
Die Elf von Trainer Didier Deschamps versuchte indes ihr Glück mit Kontern. Vor allem wurde es durch Griezmann gefährlich. Der Bayern-Schreck - im Halbfinale der Champions League hatte er die Münchner mit seinem Tor im Rückspiel eliminiert - war nur schwer in den Griff zu bekommen. Eine der größten Möglichkeiten der Franzosen resultierte aus einem Fehler von Boateng, doch Benedikt Höwedes klärte in höchster Not mit einer Grätsche gegen Olivier Giroud.
Mit einem 0:0 zur Pause schienen sich die Teams abgefunden zu haben, als nach einer französischen Ecke ein Handspiel von Schweinsteiger im Zweikampf mit Patrice Evra das Spiel ein wenig auf den Kopf stellte. Der Italiener Nicola Rizzoli, der auch schon das WM-Finale 2014 geleitet hatte, entschied folgerichtig auf Elfmeter. Es war fast schon eine Parallele zum Italien-Spiel, als Boateng ein ähnliches Malheur unterlaufen war.
Der Rückstand machte es für die deutsche Mannschaft nicht einfacher. Die Franzosen zogen sich noch weiter zurück. Die deutsche Mannschaft suchte vergeblich die Lücke. Erschwerend kam hinzu, dass auch noch Boateng verletzt vom Platz musste. Schon die Ausfälle des gesperrten Mats Hummels und der verletzten Leistungsträger Sami Khedira und Mario Gomez hatten das Unterfangen erschwert. Das Anrennen brachte nichts ein, stattdessen ging der Schuss nach hinten los. Paul Pogba tanzte Kimmich aus, dessen Flanke verlängerte Neuer vor die Füße von Griezmann, der zum 2:0 einschoss.
Trotzdem gab sich der Weltmeister nicht geschlagen. Kimmich setzte einen Schuss an den Pfosten (74.), Draxlers Freistoß strich nur knapp am Tor vorbei (76.). Sogar in der Nachspielzeit hatten noch Kimmich und Mario Götze große Chancen, doch es reichte nicht mehr. (DPA)