Das Brexit-Votum facht in der Bundes-regierung einen Grundsatzstreit über den Weg aus der Krise Europas neu an. So warnte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) den Koalitionspartner SPD vor falschen Weichenstellungen für mehr Schulden. Er widersprach in der «Welt am Sonntag» sozialdemokratischen Forderungen, mit zusätzlichen Staatsinvestitionen das Wirtschaftswachstum in Europa anzukurbeln.
Es könne nicht angehen, «die falsche Idee» wieder zu beleben, «dass man mit neuen Schulden Wachstum auf Pump erzeugt». Einen EU-Wachstumspakt für mehr soziale Gerechtigkeit verlangt auch SPD-Chef Sigmar Gabriel.
Derweil haben nach BBC-Schätzung etwa 40 000 Menschen am Samstag in London gegen einen britischen EU-Ausstieg protestiert. Viele meinen, die Brexit-Mehrheit am 23. Juni sei durch Falschinformationen und unehrliche Versprechen des Austritts-Lagers zustande gekommen. Das Parlament solle das Votum des Referendums aufheben, oder die Regierung solle in Brüssel keinen Antrag auf Austritt stellen. Königin Elizabeth II. rief zu Besonnenheit in schwierigen Zeiten auf.
Die derzeit verantwortlichen Politiker in London betonen, es gebe kein Zurück - das Votum von 17 Millionen Briten (rund 52 Prozent) für einen EU-Austritt müsse umgesetzt werden. Bei den Konservativen gilt Innenministerin Theresa May (59) als Favoritin für die Nachfolge von Premierminister David Cameron, der in den nächsten Monaten zurücktreten will. Die Politikerin hatte für den Verbleib in der EU plädiert, hielt sich aber im Wahlkampf eher bedeckt und präsentiert sich nun als Versöhnerin der zerstrittenen Parteiflügel. Die Abgeordneten beginnen am Dienstag mit dem Auswahlverfahren. Wenn zwei Kandidaten gefunden sind, können die Parteimitglieder abstimmen - bis Anfang September soll das Personalproblem gelöst sein.
In der Frage, wie die EU nach dem Ausstiegsbeschluss weitermachen soll, nahm Schäuble den SPD-Außenminister ins Visier. Das von Frank-Walter Steinmeier organisierte Außenminister-Treffen der sechs EU-Gründerstaaten kurz nach dem Brexit-Votum vom 23. Juni habe nur zu Verstimmungen geführt. Es gelte alles zu unterlassen, «was die Kluft zwischen alten und neuen EU-Mitgliedern vergrößert».
Schäuble plädierte in dem Interview für «Schnelligkeit und Pragmatismus» bei der Lösung von Problemen in Europa - notfalls auch ohne Führungsrolle der EU-Kommission in Brüssel. «Wenn die Kommission nicht mittut, dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand, lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen.» Die EU müsse «vor allem bei einigen zentralen Problemen zeigen, dass sie diese schnell lösen kann. Neben der Flüchtlingskrise nannte Schäuble die Jugendarbeitslosigkeit.
Eine bessere EU-Politik mit Blick auf die hohe Erwerbslosigkeit unter jungen Menschen forderte am Samstag auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU). In ihrem Video-Podcast sagte sie, nötig seien Veränderungen «bei den Angeboten für die Jugend». Die Kanzlerin nannte als Schwerpunktthemen der EU «Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitsplätze, Wachstum», innere und äußere Sicherheit, die Terrorismusbekämpfung und den Schutz der europäischen Außengrenzen.
Gabriel sagte am Samstag bei einer SPD-Konferenz in Berlin, das Votum der Briten gebe die Chance, Europa so zu verändern, dass es wieder mehr Zustimmung erhalte. Der Vizekanzler kritisierte Pläne für härtere Sparauflagen in notleidenden Ländern. Die EU sei zunehmend gespalten in den ärmeren Süden und den reicheren Norden. Der Wirtschaftsminister hatte am Donnerstag bei einem Treffen mit dem linken griechischen Regierungschef Alexis Tsipras mehr Wachstumsimpulse für EU-Krisenländer gefordert.
Der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), regte den Umbau der Kommission zu «einer echten europäischen Regierung» an. Er schrieb in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» (Montag), diese Regierung solle «der parlamentarischen Kontrolle des Europaparlaments und einer zweiten Kammer, bestehend aus Vertretern der Mitgliedstaaten, unterworfen» sein. Dies werde «politische Verantwortlichkeit auf der EU-Ebene transparenter machen». Die EU solle sich nicht in Angelegenheiten einmischen, die national oder regional geregelt werden könnten, sondern sich auf jene Fragen konzentrieren, die Europas Staaten nur gemeinsam bewältigen könnten. (DPA)