Die brutalen Jagszenen von Marseille und Nizza haben den Auftakt der Fußball-EM überschattet und sogar die große Terrorangst vorerst in den Hintergrund gedrängt. Nach der massiven Fangewalt beim Spiel am Samstagabend zwischen England und Russland im Stade Vélodrome und auf den Straßen der beiden Mittelmeer-metropolen hat die Disziplinarkommission der UEFA Ermittlungen aufgenommen.
Frankreichs Innenminister Bernard Cazeneuve verurteilte das Geschehen als «unverantwortliches und mutwilliges Verhalten von Pseudo-Fans». Doch auch am rigorosen Verhalten der Sicherheitskräfte gab es Kritik. Der russische Sportminister und FIFA-Funktionär Witali Mutko bemängelte sogar öffentlich die schlechte Organisation im Stadion.
Die Polizeipräfektur in Marseille, wo ein Brite lebensgefährlich verletzt wurde, vermeldete insgesamt 35 Verletzte und acht Festnahmen. Diese Zahlen scheinen angesichts der Bilder von wilden Prügelszenen und Tränengaseinsatz der Polizei noch sehr gering. Aus Nizza meldeten die Behörden eine Schlägerei von Fans aus Nordirland und Polen, die von 20 bis 30 Ultras aus Nizza provoziert worden seien. Die Bilanz dort: Neun Personen mussten ins Krankenhaus, drei andere wurden festgenommen.
Die UEFA bestätigte interne Ermittlungen, wollte sich aber vorerst nicht zu Details äußern. Die Regularien der Europäischen Fußball-Union sehen Maßnahmen von einer Ermahnung bis zum Turnierausschluss der Teams vor, deren Fans an den Ausschreitungen beteiligt waren. In früheren Fällen hatte die UEFA Geldstrafen für Erstfälle verhängt. Russische Fans waren bereits bei der EM 2012 in Polen mehrfach negativ aufgefallen.
Der Imageschaden für die EM ist immens. Zumal weitere Krawalle zu befürchten sind. In Paris wurde die Sonntagspartie zwischen Kroaten und Türken mit Sorge erwartet. Am Mittwoch und Donnerstag spielen Russen und Engländer in Lille beziehungsweise Lens ihre nächsten Gruppenspiele in zwei EM-Nachbarorten.
In Marseille war es den dritten Tag in Serie zu Gewaltszenen in der Stadt gekommen. Im Stadion eskalierte die Situation kurz vor dem Abpfiff: Augenscheinlich russische Anhänger gingen auf englische Fans los, die in benachbarten Blöcken saßen, und prügelten wild auf diese ein. Dabei flüchteten die Attackierten sogar über Zäune bis in den Innenraum.
Dem Augenschein nach waren die verschiedenen Fangruppen nur unzureichend voneinander getrennt gewesen. Dies bemängelte auch Topfunktionär Mutko: «Man muss solche Spiele gut organisieren und die Fans (im Stadion) trennen», sagte er Moskauer Medien zufolge.
Russland steht als WM-Gastgeber 2018 besonders im Fokus. Bislang hatten die Funktionäre Fangewalt als Problem im heimischen Fußball zurückgewiesen. «Was hat die WM 2018 damit zu tun?», fragte nun Mutko im Gespräch mit der Nachrichtenagentur AP.
Mark Whittle, Sprecher des englischen Fußball-Verbandes (FA), appellierte in einer nach dem Spiel verlesenen Erklärung an die englischen Fans, ihre Mannschaft respektvoll zu begleiten. «Die FA ist sehr enttäuscht über die Szenen heute. Nun liegt es in den Händen der Behörden», sagte Whittle.
In Marseille setzte die Polizei bei den Krawallen am alten Hafen wie auch an den beiden Vortagen immer wieder Tränengas ein, um die Hooligans auseinanderzutreiben. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie Anhänger beider Teams mit großer Brutalität mit Stühlen, Metallstangen und anderen Gegenständen aufeinander losgingen.
Die französischen Medien reagierten schockiert auf die Fan-Gewalt. «Die Schande», titelte die Sportzeitung «L'Équipe» am Sonntag. Sie sprach von «Guerillaszenen» in der Mittelmeerstadt. «Am zweiten Tag des Wettbewerbs steht die EM schon im Zeichen der Angst», so das Blatt. Die Sonntagsausgabe der Tageszeitung «Le Parisien» sprach von Szenen unerhörter Gewalt: «Trotz des Ausnahmezustands, obwohl jeder wusste, dass die Begegnung zwischen England und Russland explosiv ist, hatte der zweite EM-Tag im alten Hafen Züge von Bürgerkrieg.»
Die Ehefrau von Englands Stürmer Jamie Vardy machte der Polizei schwere Vorwürfe: «Das war eine der schlimmsten Erfahrungen jemals bei einem Auswärtsspiel! Ohne Grund mit Tränengas beschossen, eingesperrt und behandelt wie Tiere», twitterte Rebekah Vardy in der Nacht zu Sonntag. Sie bezog sich damit auf Vorkommnisse vor dem Spiel, die sie demnach live erlebte hatte. (DPA)