Das türkische Parlament hat die Aufhebung der Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten beschlossen. Mehr als zwei Drittel der Parlamentarier stimmten in Ankara für den umstrittenen Vorstoß der islamisch-konservativer AKP von Staats-präsident Recep Tayyip Erdogan. Die Maßnahme betrifft zwar 138 Abgeordnete aus allen vier Parteien im Parlament, richtet sich aber vor allem gegen die pro-kurdische HDP.
Erdogan wirft der HDP vor, der «verlängerte Arm» der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK zu sein. Erdogan hatte ausdrücklich dazu aufgerufen, die Immunität der HDP-Abgeordneten aufzuheben, denen nun Untersuchungshaft drohen könnte. Der Entzug der Immunität stieß international auf scharfe Kritik.
Erdogan sprach von einer «historischen Abstimmung». Im Schwarzmeerort Rize sagte er vor jubelnden Anhängern: «Mein Volk will in diesem Land keine schuldigen Parlamentarier in diesem Parlament sehen. Vor allem will es jene nicht im Parlament sehen, die von der separatistischen Terrororganisation (PKK) unterstützt werden.» Nun seien die Gerichte am Zug. «Nehmt sie und richtet über sie. Sie sollen den Preis, welchen auch immer, bezahlen.»
HDP-Chef Selahattin Demirtas kündigte an, seine Abgeordneten würden nicht ohne Zwang vor Gericht erscheinen. Die Aufhebung der Immunität sei «ganz offensichtlich ein Schritt zur Stärkung des Palastes auf dem Weg in die Diktatur». Die 59-köpfige HDP-Fraktion benötige die Unterstützung von 52 «mutigen» Abgeordneten anderer Parteien, um vor dem Verfassungsgericht gegen die Aufhebung der Immunität zu klagen. Auch Demirtas - Erdogans profiliertester Gegner - ist betroffen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will mit Erdogan am Montag in Istanbul über die Flüchtlingskrise und die Folgen der Immunitätsaufhebung sprechen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Freitag: «Grundsätzlich erfüllt uns die zunehmende innenpolitische Polarisierung in der Türkei mit Sorge.»
EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) verurteilte die Entscheidung als schweren Schlag gegen die Demokratie. «Seit den letzten Wahlen wird systematisch der Rechtsstaat ausgehöhlt und eine Ein-Mann-Herrschaft zementiert», sagte Schulz in Berlin.
Justizminister Heiko Maas (SPD) warnte: «Wenn die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden will, darf sie ihren Rechtsstaat nicht aushöhlen.» Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), forderte im «Tagesspiegel», die EU und die Nato müssten «auf diesen Angriff auf die Demokratie mit aller Schärfe und Deutlichkeit reagieren». Grünen-Parteichef Cem Özdemir sagte Tagesspiegel.de zur Abstimmung im Parlament in Ankara: «Das war ein dunkler Tag für die Demokratie in der Türkei.»
Die einmalige Aufhebung der Immunität von 138 der 550 Abgeordneten geschieht über eine befristete Verfassungsänderung. Das Parlament beschloss mit der dafür erforderlichen Zweidrittelmehrheit, diesen Satz aus Artikel 83 auszusetzen: «Ein Abgeordneter, der vor oder nach der Wahl eine Straftat begangen haben soll, darf nicht festgenommen, verhört, verhaftet oder vor Gericht gestellt werden, wenn die Versammlung nicht anderweitig entscheidet.»
Die Verfassungsänderung tritt erst mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Dann ist der Weg für eine Strafverfolgung der 138 Abgeordneten frei. Die HDP befürchtet die Festnahme von Abgeordneten ihrer Fraktion, gegen die vor allem Terrorvorwürfe erhoben werden. Parlamentarier anderer Parteien sehen sich Anschuldigungen wie etwa Amtsmissbrauch ausgesetzt.
Die 138 Abgeordneten, denen die Immunität entzogen werden soll, verteilen sich auf alle vier Parteien im Parlament: Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu gehören 27 zur AKP (317 Sitze), 51 zur Mitte-Links-Partei CHP (133 Sitze), 50 zur pro-kurdischen HDP (59 Sitze) und neun zur ultrarechten MHP (40 Sitze). Betroffen ist außerdem die einzige parteilose Abgeordnete.
Ihr Mandat können die Abgeordneten erst bei einer letztinstanzlichen Verurteilung verlieren. Da es keine Nachrücker in der Türkei gibt, verliert dann auch die Partei den Sitz. Sollten mindestens fünf Prozent der Sitze frei werden, was 28 Abgeordneten entspricht, muss nach der Verfassung in diesen Wahlbezirken nachgewählt werden. (DPA)