In Anwesenheit des belgischen Komponisten Philippe Boesmans (79) hat die Staatsoper Stuttgart das Musiktheaterwerk «Reigen» um verkorkste Beziehungskisten als Tragikkomödie aufgeführt. «Es wurde so großartig gespielt, gesungen und musiziert, dass ich sehr bewegt bin. Mir sind bei meinem eigenen Werk die Tränen gekommen», sagte der 79-jährige Boesmans am Sonntagabend nach der mit starkem Applaus bedachten Premiere.
Durch die zehn sexgeladenen Dialoge mit zeitgenössischer Musik führte ein bestens aufgelegter Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling. Er hatte bereits die Uraufführung des selten gespielten Werks 1993 am Brüssler Théâtre de la Monnaie dirigiert.
Die gefeierte Regisseurin Nicola Hümpel und Oliver Proske (Bühnenbild) vom Berliner Musiktheaterensemble Nico and the Navigators arbeiteten mit verschiedenen Räumen - von einem Wohnzimmer über ein Badezimmer bis zu einer Küche. Die teils bizarren Möbelstücke mit Wipp-Elementen, eine treppenähnliche Couchgarnitur für akrobatische Liebesspiele und anderes wandlungsfähiges Inventar nötigten - abseits des Gesangs - auch Designfans Anerkennung ab.
Das stimmfeste Ensemble glänzte vor allem mit großer Schauspiellust, wie besonders auf den Großaufnahmen der Gesichter in den Videoprojektionen im Hintergrund zu sehen war. Viele Zuschauer meinten, dass sie selten das Stilmittel Video so kunstvoll und punktgenau eingesetzt gesehen haben wie in dieser Inszenierung.
Die Oper dreht sich um Beziehungen unter anderem zwischen einer Dirne (Lauryna Bendziunaite) und einem Soldaten (Daniel Kluge), einem Dichter (Matthias Klink) und einer Sängerin (Melanie Diener) sowie einer jungen Frau (Rebecca von Lipinski) und ihrem Gatten (Shigeo Ishino). Das Libretto von «Reigen» nach Dialogen von Arthur Schnitzler (1862-1931) stammt von Luc Bondy.
Hümpel spürt in den Szenen Schnitzlers These von einer grundsätzlichen Beziehungsunfähigkeit zwischen Mann und Frau nach. «Reigen» entlarvt Liebesrituale als hohl. Und trotzdem träumen die Protagonisten auch im Zeitalter von Internet, wo schneller Sex immer greifbar ist, von echter intimer Zweisamkeit. Tanzend auf einem Video im Hintergrund verkörpern Julla von Landsberg und Michael Shapira von Nico and the Navigators diesen Traum.
In «Reigen» gehe es nicht vordergründig um Sex, sondern um den Aufwand davor und die Frustration danach, sagte Hümpel, die diesjährige Konrad-Wolf-Preisträgerin, vor der Premiere. «Dazwischen gibt es Sehnsüchte.» Dabei geht sie in den zehn mehr oder wenigen erotischen Treffen den Fragen nach, wann durch Nähe Erotik entsteht, wann durch Sex Nähe - und wann sich sie gegenseitig zerstören.
Zu Ehren des Komponisten Boesmans, der am 17. Mai 80 Jahre alt wird, wird die Vorstellung von «Reigen» am 6. Mai live über das Internetportal The Opera Platform übertragen. Dort wird die Oper sechs Monate lang gratis abrufbar sein. (DPA)