Berlin (dpa) – «Die größte Tragödie der Menschheit nach dem Holocaust» – so nennt der italienische Filmemacher Gianfranco Rosi (58) das aktuelle Flüchtlingselend. Seine erschütternde Dokumentation «Fuocoammare» (übersetzt: Feuer auf See) über die Bootsflüchtlinge auf Lampedusa hat am Samstag den Goldenen Bären der Berlinale gewonnen - wie von vielen erwartet und erhofft. Die internationale Jury unter Oscar-Preisträgerin Meryl Streep setzte damit ein klares politisches Signal. Der vieldiskutierte einzige deutsche Wettbewerbsbeitrag «24 Wochen» ging leer aus.
Gianfranco Rosi, selbst in Eritrea geboren, erzählt in dem schonungslosen Film vom Alltag auf der Mittelmeerinsel Lampedusa, auf der seit Jahren Hunderttausende schutzsuchende Menschen ankommen. Er kontrastiert idyllische Szenen vom Alltag der Inselbewohner mit Momenten, die das Grauen der Flucht auf kleinen, völlig überfüllten Booten zeigen. Auch vor Bildern des realen Sterbens schreckt er nicht zurück. Bei der Preisverleihung in Berlin sagte er: «In diesem Augenblick gehen meine Gedanken an all jene, die es nicht geschafft haben, auf Lampedusa anzukommen, der Insel der Hoffnung.»
Dass die Jury erstmals seit mehr als 60 Jahren einen Dokumentarfilm für die Spitzentrophäe wählte, ist vielleicht auch ein Zeichen, dass angesichts der Tragödie Bilder vom wirklichen Leben wirkungsvoller, packender und nachhaltiger sein können als ein inszeniertes Spiel. «Fuocoammare» erhielt auch den Filmpreis von Amnesty International und den Preis der Ökumenischen Jury. Streep nannte den Film «das Herz der Berlinale».
Mit dem Motto «Recht auf Glück» hatte sich das Festival in seiner 66. Ausgabe bewusst den aktuellen Themen von Krieg, Flucht und Ausgrenzung verschrieben - auch wenn der Glitzerfaktor mit Promis wie George Clooney, Tilda Swinton & Co groß war.
Die Jury folgte dem politischen Anspruch auch mit der Vergabe ihres Großen Preises (Silberner Bär) an den Spielfilm «Tod in Sarajevo» (original: «Smrt u Sarajevu»). Der bosnische Regisseur Danis Tanovic verschränkt darin Geschichten aus der Jetzt-Zeit mit Recherchen zum Attentat von Sarajevo 1914, das als Auslöser des Ersten Weltkriegs gilt. Dieser Film stand beim Publikum ebenfalls hoch im Kurs.
Bei der Schauspielerkür setzten sich ein arrivierter Star und ein Newcomer durch. Mit der Wahl der beliebten Dänin Trine Dyrholm (43) zur besten Darstellerin dürfte die Jury den Zuschauern aus dem Herzen gesprochen haben. Ihre Rolle als Späthippie in Thomas Vinterbergs nachdenklicher Komödie «Die Kommune» (original: «Kollektivet») ist von anrührender Intensität.
Dem jungen Tunesier Majd Mastoura gelingt es in «Hedi» (original: «Inhebbek Hedi» von Mohamed Ben Attia), aus dem Stand den Zwiespalt zwischen Tradition und Aufbruch in seiner Heimat mit viel Kraft überzeugend zu spiegeln.
Für die Schauspielerpreise war auch das deutsche Duo Julia Jentsch und Bjarne Mädel gehandelt worden. Ihr emotionales Spiel in dem Abtreibungsdrama «24 Wochen» hatte für viel Gesprächssstoff gesorgt.
Doch sowohl sie wie auch die für ihren Mut gelobte Regisseurin Anne Zohra Berrached mussten auf Preissegen verzichten - ein Wermutstropfen für das deutsche Kino. Die mit Spannung erwartete, auf Englisch gedrehte Fallada-Verfilmung «Jeder stirbt für sich allein» war schon vorher durchgefallen.
Ansonsten schien die Jury bemüht, die Preise in dem ungewöhnlich gehaltvollen Wettbewerb möglichst breit unter die Nationen zu streuen. Acht der ingesamt achtzehn Wettbewerbsfilme wurden mit einer Auszeichnung bedacht - fast ein bisschen zu viel Gießkannenprinzip.
Für die beste Regie ging ein Silberner Bär nach Frankreich an Mia Hansen-Løve für das Frauenporträt «Die Zukunft» (original: «L’avenir») mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle. Der nicht ganz starke Film hat von der Jury möglicherweise einen Frauenbonus erhalten. Insgesamt waren nur zwei Filme von Regisseurinnen im Rennen.
Sehr zu recht ging der Alfred-Bauer-Preis an das philippinische Mammutwerk «Ein Wiegenlied für das schmerzhafte Geheimnis» («A Lullaby to the Sorrowful Mystery»): Die Auszeichnung soll neue Perspektiven in der Filmkunst fördern. Regisseur Lav Diaz hatte mit dem acht Stunden dauernden Revolutionsepos neue Maßstäbe gesetzt. Ein Gutteil des Publikums brachte nicht genügend Sitzfleisch auf, die anderen waren von der hochstilisierten Erzählweise schwer begeistert. (DPA)