Jens Lauer hielt sich für gut vernetzt im Rudolfkiez. Seit 14 Jahren wohnt er mit seiner Familie in dem Berliner Viertel. Tatsächlich kennt er neben seinen Nachbarn im Haus aber nur Eltern vom Spielplatz, die Kinder im Alter der seinen haben. Aufgefallen sei ihm das bei einer Spendenaktion für Flüchtlingskinder, die er angeleiert hat. Da habe er das erste Mal Kontakt zu jüngeren und auch deutlich älteren Kiez-Bewohnern gehabt, erzählt der 48-Jährige. Initiiert hat der Psychologie-Dozent die Spendenaktion über das Online-Netzwerk «Nebenan.de». Die Plattform will Nachbarn wieder enger zusammenbringen.
Für jeden Kiez, der mitmacht, gibt es eine eigene Internetseite. Nachbarn können dort ein Profil anlegen und Dinge verleihen, verkaufen, Hilfe anbieten, sich verabreden oder Veranstaltungen organisieren.
Eine «Online-Pinnwand für die Nachbarschaft» nennt es Philipp Götting. Er ist Gründer von «WirNachbarn», das es bereits seit einem Jahr gibt. Wie Nebenan.de startete das Netzwerk in Berlin und will langfristig deutschlandweit aktiv sein.
Eine ähnliche Idee steckt etwa hinter lokalen Facebook-Gruppen wie der «Social Street» der Bewohner einer Straße in Bologna. Oder dem «Netzwerk Nachbarschaft», in dem registrierte Nachbarn Initiativen vorstellen und sich darüber austauschen können. Oder bei einer Wohnungsbaugenossenschaft in Detmold, die ihre Mieter beim Einzug mit Tablet, Basis-Flat und eigener App ausstattet - für den Austausch mit den Nachbarn und der Genossenschaft selbst.
Digital vernetzt, um sich analog wieder besser kennenzulernen - ist das die Nachbarschaft der Zukunft? «Ich liebe Berlin, aber mich stört die Anonymität in dieser Stadt», sagt Almut Eckhof aus dem Graefe-Kiez der Hauptstadt. Sie wollte neue Leute kennenlernen, deshalb hat sie sich bei Nebenan.de angemeldet. Ein konkretes Hilfsbedürfnis stand nicht im Vordergrund. Auch Lauer ist eher auf der Suche nach neuen Kontakten. «Wenn ich so langsam ins Seniorenalter übergehe, dann halte ich das für eine gute Möglichkeit, um aktiv zu bleiben.»
Dennoch: Am besten funktionieren die Portale dann, wenn jemand etwas braucht. Eine Leiter ist innerhalb weniger Minuten gefunden. Gefragt wird nach einer Putzfrau-Empfehlung. Gesucht werden Baby- und Katzensitter. Kinderkleidung steht zum Verkauf.
Bis tatsächlich eine Jogging-Runde oder ein Koch-Treffen zustande kommt, dauert es dennoch. Lauer wollte noch im November ein gemeinsames Abendessen in der Kiez-Kirche organisieren. Vor Weihnachten wurde daraus nichts mehr. Ein Bastel-Treffen von Eckhof und zwei Nachbarinnen hatte ebenfalls einen langen Vorlauf.
Hinter den Portalen Nebenan.de und WirNachbarn stehen Start-ups, die irgendwann auch Geld verdienen müssen. Werbung von lokalen Dienstleistern können sich die Gründer als Einnahmequelle vorstellen: Der Friseur postet einen freien Termin, der Bäcker kündigt seinen Urlaub an. Konkreter sind die Konzepte bisher nicht.
Der Soziologe Martin Rutha denkt, dass Unternehmen einen «langen Atem» brauchen werden, um entsprechende Angebote, die in den USA bereits funktionierten, auch in Deutschland durchzusetzen. «Ich kann mir vorstellen, dass das schlussendlich Erfolg hat. Aber das wird viel Geld kosten.» Zunächst müsse es einem Unternehmen gelingen, die Deutschen von den Vorteilen zu überzeugen und die Vorbehalte beim Datenschutz zu überwinden. In Deutschland sei die kommunale Organisation stark an Vereine angebunden. Das biete eine persönliche Kontrolle, die bei einem kommerziellen Netzwerk wegfalle.
Beim Konzept des amerikanischen Neighborhood Watch geht es auch darum, die Umgebung sicher zu halten. Eine Zusammenarbeit mit der Polizei bei der Aufklärung von Verbrechen ist selbstverständlich.
Auch die Gründer von Nebenan.de und WirNachbarn können sich vorstellen, Polizei und Stadtverwaltung einen Zugang zur Plattform zu geben. Damit nicht mehr mit Flugblättern vor Einbrüchen gewarnt werden müsse, sagt Götting. Außerdem würden sich Menschen vielleicht eher online mit Hinweisen an die Polizei wenden als anzurufen. Ein verantwortungsvoller Umgang sei dabei gesichert, da eine anonyme Anmeldung bei dem Netzwerk nicht möglich sei.
Bei Lauer gehen dagegen gleich die Alarmglocken an. «Wir müssen dort eine Grenze ziehen, wo wir anfangen uns gegenseitig zu überwachen», sagt er. «Wenn meine Familie tatsächlich gefährdet wäre, wäre ich der Letzte, der etwas dagegen hätte.» Gleichzeitig hat er Angst davor, dass Leute mit Falschmeldungen diskreditiert werden und dadurch Panik entstehen könnte.
Nach eigenen Angaben haben sich bei WirNachbarn bisher 10 000 Berliner registriert, bei Nebenan.de sind es den Gründern zufolge 50 Nachbarschaften mit jeweils 12 bis 600 Nutzern. Allein die Anmeldezahlen werden für den Erfolg der Netzwerke nicht ausschlaggebend sein. Auch die Nachbarschafts-App Swapi hatte bereits mit 10 000 Nutzern geworben, stellte ihren Dienst aber nach kurzer Zeit ein. «Wenn keiner mehr was initiiert, wird das sterben», sagt Lauer. (DPA)