Gehirn ruft Erinnerungen schneller ab als angenommen

100 bis 200 Millisekunden - solange braucht das Gehirn, um nach Erinnerungen im Hippocampus zu suchen. Foto: Ingo Wagner
100 bis 200 Millisekunden - solange braucht das Gehirn, um nach Erinnerungen im Hippocampus zu suchen. Foto: Ingo Wagner

Erinnerungen an Erlebtes hat das Gehirn weit schneller wieder parat als bisher angenommen. Die sensorischen Hirnbereiche werden binnen 100 bis 200 Millisekunden aktiv, berichten Neurowissenschaftler der Universitäten in Konstanz und Birmingham im «Journal of Neuroscience». Zuvor habe man angenommen, das Gehirn müsse länger nach Erinnerungen im Hippocampus suchen. «Wir gingen bisher von etwa einer halben Sekunde aus. Das ist in den Dimensionen der Gehirntätigkeit sehr lang», sagt Gerd Waldhauser, der inzwischen an der Ruhr-Universität Bochum forscht.

 

Die Wissenschaftler baten Teilnehmer zunächst, sich bestimmte Objekte möglichst genau einzuprägen. Später wurden die Erinnerungen wieder abgefragt. Als Analysemethode wurde die Elektroenzephalografie (EEG) verwendet, bei der aus Spannungsschwankungen an der Kopfoberfläche mit hoher zeitlicher Auflösung auf die Aktivität einzelner Hirnbereiche geschlossen werden kann.

 

Bei Erinnerungen an Erlebtes sind im Gehirn zum großen Teil dieselben Areale aktiv wie beim Abspeichern dieser Erlebnisse. Jede episodische Erinnerung ist einzigartig und an einen bestimmten Ort und Zeitpunkt gebunden. Im Erinnerungsprozess werden die Sinnesinformationen reaktiviert - also zum Beispiel Areale des Sehsinns wieder aktiv. Die Analyse ergab nun, dass dies bereits nach 100 bis 200 Millisekunden geschieht.

 

«Man hat gedacht, dass das Gehirn eine Weile braucht, um im Hippocampus – einer wichtigen Region für das Langzeitgedächtnis – danach zu suchen», erklärt Simon Hanslmayr von der Universität Birmingham. «Unsere Ergebnisse rütteln an dieser Vorstellung, denn sie zeigen eine sehr schnelle Reaktion des Gehirns.» Erste Hinweise darauf hätten zuvor bereits andere Studien ergeben.

 

Gerade diese frühen Prozesse seien entscheidend für das erfolgreiche Erinnern an ein Geschehen, fanden die Forscher zudem heraus. Hemmten sie die frühe Reaktivierung mit sogenannter transkranieller Magnetstimulation (rTMS), störte das den Abruf der Erinnerungen. «Die Ergebnisse helfen uns, das episodische Gedächtnis, also die Erinnerung an Erlebnisse des Menschen, besser zu verstehen», erklärt Waldhauser. Im Unterschied dazu speichert das semantische Gedächtnis Fakten - wie zum Beispiel, dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist.

 

Einen Nutzen könne möglicherweise die Psychiatrie haben, hieß es. «Es wäre hilfreich, in den Abruf von Erinnerungen eingreifen zu können, zum Beispiel bei Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die von wiederkehrenden unerwünschten Erinnerungen geplagt werden», so Waldhauser. Womöglich könne man in Zukunft einmal gezielt gegen diese immer wieder auftretenden Bilder vorgehen - allerdings seien zunächst weitere Studien nötig. (DPA)