Lammert: «Wir haben eine stabile Mitte»

Bundestagspräsident Lammert: «Ein demokratischer Rechtsstaat hält auch extreme Meinungen aus und muss sogar dafür sorgen, dass sie ausgedrückt werden können». Foto: Bernd von Jutrczenka
Bundestagspräsident Lammert: «Ein demokratischer Rechtsstaat hält auch extreme Meinungen aus und muss sogar dafür sorgen, dass sie ausgedrückt werden können». Foto: Bernd von Jutrczenka

Eurokrise, Flüchtlingszuzug, Terrorgefahr - kann das Land, kann die Politik die Probleme bewältigen? Finden Populisten immer mehr Gehör? Löst sich die politische Mitte auf? Im Interview der dpa blickt Bundestagspräsident Norbert Lammert auf die Herausforderungen und die Stimmung im Land. Frage: In der Flüchtlingsdebatte ging es zuletzt mehr um Obergrenzen, Reduzierung, Einschränkungen beim Familiennachzug - gibt es die Gefahr, dass die Menschen nicht mehr als Bereicherung gesehen werden?

 

 

Antwort: Der Flüchtlingszuzug ist gewiss eine große Belastung, die diese Gesellschaft stemmen muss. Aber damit ist auch eine große Chance verbunden. Man darf das nicht auf das eine oder andere reduzieren. Es gibt zwar keinen ernsthaften Streit mehr darüber, dass wir alles Vertretbare tun müssen, um die Zahl der zu uns Kommenden zu steuern und zu reduzieren. Diejenigen, die für die Festlegung von Obergrenzen plädiert haben, haben aber wohl mittlerweile verstanden, warum das kein zielführender Beitrag ist.

 

Frage: Muss mehr getan werden, damit wir das schaffen? Brauchen wir einen Marshallplan für die Flüchtlinge?

 

Antwort: Es findet längst eine deutliche Verschiebung der Prioritäten in den öffentlichen Haushalten statt. In diesem und dem nächsten Jahr (*) geben wir einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag bei Bund, Ländern und Kommunen für diese Herausforderungen aus, einen beachtlichen Teil für Schulen, Kindergärten, Qualifizierung. Wenn wir diejenigen, die bleiben können und wollen, integrieren, ist das ein Vorteil für die Betroffenen wie für Deutschland. Deswegen ist der eigentliche Maßstab der Problembewältigung das Ausmaß der Integration - und nicht die Zahl der Flüchtlinge. Was sowohl die Behörden vor Ort als auch Hunderttausende - dazu rechtlich nicht verpflichtete - freiwillige Helfer hierfür schon seit Wochen geleistet haben und weiter leisten, verdient jeden Respekt.

 

Frage: Ohne Europa wird es aber kaum gehen. Wenn Sie Amtskollegen aus EU-Ländern treffen, die sich gegen eine Verteilung der Flüchtlinge stemmen - was sagen Sie ihnen?

 

Antwort: Erstens muss man solche Positionen der Nachbarländer so ernst nehmen, wie wir auch mit unseren Positionen ernst genommen werden wollen. Zweitens muss man berücksichtigen, dass es eine vertragliche Verpflichtung zur Beteiligung der europäischen Mitgliedstaaten an einer Verteilung nicht gibt. Wenn wir eine solche verbindliche Verteilungslösung für notwendig halten, müssen wir also möglichst viele Länder davon überzeugen.

 

Frage: Glauben Sie, dass hier ein europäischer Kompromiss gelingt?

 

Antwort: Das ist meine ausdrückliche Erwartung. Natürlich können und müssen nicht alle dasselbe tun. Aber niemand kann sich mit dem Argument, er hätte mit dem Problem nichts zu tun, aus seiner Mitverantwortung in dieser Gemeinschaft verabschieden. Wer an offenen Grenzen und Freizügigkeit in Europa auch in Zukunft festhalten will, muss an einer gemeinsamen und verbindlichen Lösung interessiert sein.

 

Frage: Wie schätzen Sie die Stimmung in Deutschland ein? Euro- und Flüchtlingskrise, Terrorismus - ist das Land wegen der Aneinanderreihung und Überlappung großer Krisen verunsichert?

 

Antwort: Das scheint mir ein bisschen übertrieben. 2015 sind wir quartalsweise von einem Krisenmodus in den nächsten gewechselt. Gleichwohl haben wir das Jahr insgesamt beachtlich gut überstanden. Viele sind nicht verunsichert, sondern zeigen ein enormes Maß an Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen. Aber es gibt auch verständliche Sorgen, ob wir unsere Rechtsordnung, unsere Kultur und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren können. Dass sich diese Sorgen nicht von selbst erledigen, so lange nicht klar ist, ob und wann und in welcher Größenordnung sich das Problem beherrschen lässt, ist alles andere als erstaunlich.

 

Frage: Rechtspopulisten haben Zulauf, viele kehren den demokratischen Parteien den Rücken. Ist das eine Gefahr für die Demokratie?

 

Antwort: Die deutsche politische Kultur hat nach den traumatischen Erfahrungen einer gescheiterten Demokratie eine ermutigende Fähigkeit entwickelt: Bei großen Herausforderungen wird das konstruktive Bemühen um angemessene Lösungen für noch wichtiger gehalten als der übliche Wettbewerb um Stimmen und Mandate. Den muss es bei konkurrierenden Parteien auch geben. Aber in der Flüchtlingsfrage bewegen sich die Parteien insgesamt aufeinander zu. Sie stehen zu den Verpflichtungen des Landes - und nehmen zugleich die Besorgnisse ernst. Zweifellos gibt es auch Leute, denen das alles zu kompliziert ist und die nach den einfachen Lösungen suchen, die es nicht gibt.

 

Frage: Pegida und die AfD machen Ihnen keine größeren Sorgenfalten?

 

Antwort: Ich fände es natürlich viel schöner, wenn es solche Entwicklungen nicht gäbe. Aber in einer freiheitlichen Gesellschaft sind dies bei großen Herausforderungen beinahe unvermeidliche Begleiterscheinungen. Ein demokratischer Rechtsstaat hält auch extreme Meinungen aus und muss sogar dafür sorgen, dass sie ausgedrückt werden können. Was sich jenseits der freien Rede allerdings an Pöbeleien, Verunglimpfungen und tätlichen Angriffen beobachten lässt, darf nicht toleriert werden.

 

Frage: Erleben wir eine neue Radikalisierung?

 

Antwort: Deutschland ist in Europa beinahe das einzige Land, in dem sich die politische Mitte nicht aufzulösen droht. Wir haben neben einer stabilen, nicht nur von einer Partei besetzten Mitte immer wieder die eine oder andere merkwürdige Entwicklung an den Rändern. Wir befinden uns politisch aber in einer besseren Verfassung als manche andere. So kommen die demokratischen Parteien ihrer Aufgabe in beachtlichem Maß nach, den Menschen die Dinge zu erklären und sie mitzunehmen. Was seit Wochen im ganzen Land an Veranstaltungen stattfindet, bei denen sich Bürgermeister, Landräte, Abgeordnete und zahlreiche Organisationen für die Lösung der Probleme engagieren, ist schon ein Teil der Bewältigung der Herausforderung. (DPA)

 

(*) Gemeint ist: 2015 und 2016. Das Interview wurde noch im alten Jahr geführt.