Was hat sie eigentlich dazu bewogen? Gab es einen Auslöser? Wie kann es sein, dass Angela Merkel zehn Jahre regiert und die Menschen im Land sie so noch nie erlebt haben? Die Zaudernde, die Zögernde, die Vorsichtige, die Kühle. Die, die selten Gefühle zeigt. Plötzlich geht sie warmherzig und mutig voran in der Flüchtlingspolitik, versichert sich nicht der Gefolgschaft ihrer Union. Und das bei einem Thema, das zu den heikelsten für CDU und CSU überhaupt gehört.
Wo doch schon der Vorstoß von CDU-Generalsekretär Peter Tauber zu einem Einwanderungsgesetz und einem damit verbundenen geordneten Zuzug von Migranten im Frühjahr einen Aufschrei in Partei und Bundestagsfraktion hervorgerufen hatte. Was ist geschehen?
Die Kanzlerin begründet ihren Entschluss in einer September-Nacht zur unbürokratischen Öffnung der Grenze für Flüchtlinge mit humanitärer Nothilfe. Sie hatte Angst, dass auf dem völlig überfüllten Bahnhof mit völlig überforderten Polizisten in Budapest ein Unglück passiert und die Europäische Union nach all den toten Flüchtlingen im Mittelmeer in Ungarn vollends ein Bild des Versagens abgibt.
Doch das ist längst nicht alles. Merkel hatte vorher mehrere einschneidende Erlebnisse. Mit dem Flüchtlingsmädchen Reem in Rostock, das weinte, als die Kanzlerin ihm sagte, nicht jeder könne bleiben. Mit den Neonazis in Sachsen, die Merkel anpöbelten und sie eine Volksverräterin nannten. Mit den Syrern, denen die Flucht gelungen war, und die mit einer Mischung aus Hartnäckigkeit und Dreistigkeit Selfies mit der Kanzlerin ergatterten. Stolz, glücklich.
Wäre Merkel die «Eiskönigin», als die sie das Magazin «Stern» noch kurz zuvor beschrieben hatte, hätte sie all das an sich abprallen lassen. Tränen eines Kindes? Kommt vor. Rechtsradikale Rotzigkeit? Ignorieren. Überschwang junger arabischer Männer? Personenschützer eingreifen lassen. Aber so ist er eben nicht, der Mensch Merkel.
Reem hat Merkel mit ihrem Kummer einen Stich versetzt. Live im Fernsehen. Jeder konnte sehen, wie Merkel zu trösten versuchte. Die Neonazis will Merkel nicht noch mehr Gift versprühen lassen: «Dann ist das nicht mein Land». Und die Selfies lässt sie über sich ergehen, weil sie das freundliche Gesicht Deutschlands wahrhaft zeigen will. Man weiß aus zehn Jahren Kanzlerschaft, dass Merkel lieber auf Abstand bleibt.
CDU-Politiker, die sie lange kennen, sagen, die Not der Flüchtlinge habe ihr Herz berührt. Es sei keine Floskel, wenn die Kanzlerin die Bürger auffordert, sich einmal das Elend für sich selbst vorzustellen: Alles aufzugeben, die Heimat, Freunde, den Job. Tausende Kilometer zu Fuß, mit dem Schlauchboot, durch Hitze und Schlamm, nicht wissend, ob man überlebt. Die Pfarrerstochter aus der DDR habe sich schon immer für Menschen- und Freiheitsrechte eingesetzt. Ihr jetzt legendärer Satz in ihrer Sommer- Pressekonferenz «Wir schaffen das» sei kein Kalkül gewesen, sondern Überzeugung. Wenn auch nicht gleich verbunden mit einer Strategie.
Zwischenzeitlich ist die Rede davon, dass Merkel an der Flüchtlingskrise scheitern könnte. Noch nie war auch das Verhältnis zu CSU-Chef Horst Seehofer so schlecht. Beim Parteitag der Christsozialen zwei Tage vor ihrem zehnjährigen Kanzlerin-Jubiläum kanzelt er Merkel auf der Bühne wie ein Schulmädchen ab. Und in der CDU rumort es gewaltig. Viele haben Angst, dass Deutschland mit den Flüchtlingen überfordert sein wird - und die Union in der Wählergunst abstürzt. Doch dann kommt der CDU-Parteitag in Karlsruhe.
Merkel schmiedet am Vorabend mit ihren Kritikern einen Kompromiss. Dafür, dass diese die Forderung nach einer Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen fallenlassen, akzeptiert sie die Formulierung, dass die Zahl der Flüchtlinge spürbar verringert werden soll. Auf dem Kongress bekommt sie für die «Karlsruher Erklärung» fast hundert Prozent Zustimmung.
Die SPD hatte ihren Vorsitzenden Sigmar Gabriel wenige Tage zuvor noch abgemeiert. Die Christdemokraten aber stärken Merkel, obwohl viele von ihnen vorher gehadert haben. Und: Sie sagen Ja zu einem Einwanderungsgesetz. Minutenlang beklatschen die Delegierten ihre Vorsitzende. Sie ist gerührt und plinkert mit den Augen. Manch einer meint zu erkennen, dass sie Tränen in den Augen hat.
Wer etwas über Merkels Gefühlswelt erfahren will, schlägt am besten bei Herlinde Koelbl nach, die in den 1990er Jahren für ihren Bildband «Spuren der Macht» über viele Jahre kontinuierlich mehrere Politiker interviewte, darunter Merkel. Damals hat die heute 61-Jährige noch offen gesprochen. Etwa über ihre Wut auf den damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder.
«Kaltschnäuzig» nannte sie das Umspringen des SPD-Mannes mit ihr als Bundesumweltministerin in Sachen Atommüllentsorgung. Und sagte 1997 dies: «Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn irgendwann genauso in die Ecke stellen werde. Ich brauche dazu noch Zeit, aber eines Tages ist es so weit. Darauf freue ich mich schon.» Acht Jahre später war es so weit. Merkel stellte den Bundeskanzler Schröder in die Ecke und übernahm als erste Frau der Bundesrepublik das Kanzleramt.
Sie hatte sich geschworen: «Mir nicht mehr so viel bieten zu lassen. Und das macht mir auch Spaß. Das ist ein bisschen so wie Schiffe-Versenken.» Und dann ist da noch dieser Satz: «Tja, ich möchte irgendwann den richtigen Zeitpunkt für den Ausstieg aus der Politik finden. Das ist viel schwerer, als ich mir das früher immer vorgestellt habe. Aber ich will dann kein halbtotes Wrack sein.»
Und wie will sie den Menschen dann in Erinnerung bleiben? «Als die, die den Bezug zur Realität nicht verloren hat.» Das antwortete sie vor 18 Jahren. Seit 15 Jahren ist Merkel CDU-Vorsitzende, mit ihrer Kanzlerschaft avancierte sie zur mächtigsten Frau der Welt. Ihr Ausstieg aus der Politik ist nicht leichter geworden. (DPA)