Wenn sie ein trauriges Buch gelesen hat, kann es passieren, dass beim Dreh die Tränen fließen: Andrea Koßmann dreht Videos über Bücher, die sie begeistern. Rund 250 Video-Rezensionen hat die 46-Jährige schon auf Youtube veröffentlicht - 2,5 Millionen Zuschauer haben sie sich angesehen. Als die Bürokauffrau aus Marl 2009 mit ihrem Kanal «Kossis Welt»anfing, war sie eine der ersten, die in Deutschland auf Youtube über Bücher sprachen. Inzwischen hat sich diese Form der Literaturkritik etabliert und auch schon einen eigenen Namen: Booktube.
Die Zahl der Anbieter ist noch viel kleiner als im angelsächsischen Raum. Branchenkenner gehen hierzulande dennoch bereits von einer dreistelligen Zahl aus. Die meisten Booktuber beschäftigen sich nicht ausschließlich mit Büchern. Sie «youtouben», wie das neudeutsch heißt, hauptsächlich über Kosmetik, Kochen oder Katzen und stellen nebenbei auch Bücher vor. Stars der Szene wie «peachgalore» bringen es so auf 70 000 Abonnenten.
Einiges ist zum Fremdschämen: Manchmal halten Teenies ihre Neuerwerbungen verschweißt und ungelesen in die Kamera - «BookHaul» nennt sich diese Art, Bücher vorzustellen. Oder sie gehen mit der Kamera ihr Bücherregal durch und sagen Sätze wie: Hab ich noch nicht gelesen, aber das Cover ist so schön pink, «ein ganz süßes Buch». Ein Urteil wie «super lustig» ist schon die ausführliche Variante.
Eine Booktuberin nahm jüngst per Video ihre Kollegen gegen den Vorwurf der Oberflächlichkeit in Schutz. Niemand dürfe auf Youtube hochtrabende Literaturkritik erwarten, findet «Christelle». Wenn sie Buchtipps suche, lese sie ja auch nicht das Feuilleton - sie frage ihre beste Freundin. Die Art Bücher, die Kritiker besprechen, seien ihr zu anstrengend: «Ich will beim Lesen entspannen und Spaß haben.»
Die Leitmedien kümmern sich um Nobelpreis-Anwärter und Pulitzer-Preisträger, aber wer sagt Top oder Flop bei den Genres des Massengeschmacks - Historien-Schinken, Fantasy-Wälzer, Schmacht-Schmöker? Booktuber besetzen diese Nische. Nicht mit tiefschürfender Analyse, aber mit Herzblut. Wichtiger als die Qualifikation sind die Sympathiepunkte.
Die Verlage seien an Youtubern sehr interessiert, sagt Frank Krings, zuständig für die Social Media der Frankfurter Buchmesse. «Man hat sofort hohe Reichweiten und erreicht Zielgruppen, die man mit klassischen Marketinginstrumenten nicht erreicht.» Branchenriese Random House betreibt zum Beispiel ein eigenes Portal für Blogger und Youtuber. «Man muss das auf jeden Fall ernst nehmen.»
Einige verdienen damit sogar Geld. Sie verlinken den Kaufbutton eines Online-Händlers und kassieren bei jedem bestellten Buch eine Provision. Dazu kommt ein Anteil an den Werbeeinnahmen von Youtube. «Reich wird man damit nicht», sagt Andrea Koßmann, «aber das war auch nie meine Intention.»
Rund zehn Stunden im Monat investiert sie in ihre Videos. Zur Kamera greift sie vor allem dann, wenn sie ein Buch ganz toll findet. «Im Video kann ich meine Begeisterung besser rüberbringen und mehr Emotionen zeigen», sagt sie über ihren Nebenjob. «Booktube soll nicht stocksteif sein - wer möchte schon glattgebügelte und gestriegelte YouTube-Menschen zuhause auf dem Bildschirm sehen und sich mit denen womöglich zu Tode langweilen?» Geschnitten oder noch mal gedreht wird nicht: «Ich will authentisch sein.» (DPA)