Sie sagt es nicht. Dieses eine Wort: Obergrenze. Da kann Horst Seehofer warten, bis er schwarz wird. Das heißt nicht, dass Angela Merkel den erbitterten Streit mit dem CSU-Chef in der Flüchtlingspolitik während der Generaldebatte über den Haushalt im Bundestag ausblendet. Mitnichten. Sie versetzt dem CSU-Mann, dem CDU-Leute zunehmend «rüpelhaftes Rumholzen» gegen die Chefin ankreiden, am Mittwoch neue Nadelstiche. Subtil, ohne Seehofer beim Namen zu nennen. Aber viele denken: Er ist gemeint.
«Die simple Abschottung wird uns nicht das Problem lösen», mahnt die Kanzlerin. Denn für die Einhaltung einer von Seehofer so vehement geforderten Obergrenze der Flüchtlingsaufnahme müsste Merkel zufolge die Landesgrenze geschlossen werden - und die hilfesuchenden Menschen würden diese trotzdem durchbrechen. Neue Zäune in Europa will Merkel unbedingt verhindern. Denn dann sähe sie die Europäische Union mit ihrem Freiheitsgedanken in ihrer Gemeinschaft gescheitert.
Auch Unionsfraktionschef Volker Kauder, einer von Merkels besten Freunden, sagt: «Es steht nämlich tatsächlich die Zukunftsfähigkeit Europas auf dem Spiel.» Die Kritik an Merkel, die Ende August «Wir schaffen das» gerufen hatte, ohne zugleich ein Konzept dafür vorzulegen, tut Kauder so ab: «Der Kölner Dom ist auch nicht an einem Tag erbaut worden.» Genau genommen in 632 Jahren.
Merkel sagt, es sei nicht einmal ein halbes Jahr vergangen, seit die Flüchtlingspolitik so stark in den Fokus gerückt sei. Deutschland könne als größte Volkswirtschaft in der Mitte Europas nicht als Erstes sagen: «Das geht nicht.» Es wäre ein Riesenfehler, es nicht immer wieder und wieder zu versuchen. Ziel müsse aber auch sein, «die Zahl der bei uns ankommenden Flüchtlinge zu reduzieren».
Sie spricht wieder von Kontingenten (mit denen ja eine Aufnahmezahl für die EU festgelegt werden würde, was einer Begrenzung nahekäme). Doch die EU kommt nur schleppend voran. Auf Merkel-Deutsch: «Die Erscheinung Europas ist im Augenblick verbesserungsmöglich.»
Die Kanzlerin bleibt bei ihrem Credo: «Wir schaffen das.» Aber sie pocht nun auf ein «hohes Maß an neuem Denken». Doch wer sind ihre Verbündeten? Kauder, Kanzleramtschef Peter Altmaier, Ministerin Ursula von der Leyen (alle CDU), auch Außenminister Frank-Walter Steinmeier und Vizekanzler Sigmar Gabriel (beide SPD). Aber Seehofer?
Gabriel sagte bei einer Politik-Konferenz der Deutschen Presse- Agentur am Vortag zu noch kürzlichen Gedankenspielen Seehofers über eine absolute Mehrheit von CDU und CSU im Bund: «Mindestens aktuell wird Frau Merkel notfalls SPD wählen, um das zu verhindern.»
Merkel spricht in der Generaldebatte für ihre Verhältnisse lange. Normalerweise versucht sie, ihre Welt in 20 Minuten zu erklären. Diesmal dauert es fast eine Dreiviertelstunde. Dabei hat sie fast keine Stimme mehr. Sie ist schwer erkältet. Zurück auf der Regierungsbank wirft sie als erstes einen Halsbonbon ein. Die Unionsfraktion, auch ihr CSU-Teil, klatscht. Immerhin so lange, bis Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sich bemüßigt fühlt darauf hinzuweisen: «Weiterer Beifall geht auf Kosten der Debattenzeit.»
Applaus bekommt Merkel auch von der Opposition, in den auch die SPD einstimmt als Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sagt: «Ja, Frau Merkel, ich freue mich wirklich, dass Sie dem Sperrfeuer aus den eigenen Reihen standgehalten haben.» Er warnt die Kanzlerin aber davor, den Flüchtlingen nach dem freundlichen Gesicht mit der Willkommenskultur eine «hässliche Fratze» mit den geplanten weiteren Verschärfungen des Asylrechts zu zeigen. Und Seehofer solle sich dafür entschuldigen, dass er Merkel beim CSU-Parteitag wie ein Schulmädchen abgekanzelt habe. Selbst Linksfraktionschef Dietmar Bartsch sagt: «Jegliche bürgerliche Anstandsform wurde da verletzt.»
Traditionell bietet die Generaldebatte über den Bundes-Etat der Opposition Gelegenheit zur Generalabrechnung mit der Regierung. Diesmal ist aber besonders spannend, wie sich die Regierungsparteien CDU und CSU verhalten. So ist der Auftritt dieser Frau von Bedeutung: Gerda Hasselfeldt. Es ist kein Geheimnis, dass die Nähe der CSU- Landesgruppenchefin zu Merkel manchmal größer ist als zu Seehofer.
«Zehn Jahre Bundeskanzlerin Angela Merkel, zehn erfolgreiche, zehn gute Jahre für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland», fängt Hasselfeldt an. Dann bezieht sie so Position: «Unsere Hilfe müssen wir konzentrieren auf die wirklich Schutz- und Hilfebedürftigen. Um dieses zu erreichen, müssen wir aber auch dafür sorgen, dass die Zahlen reduziert werden und dass wir eine Begrenzung bekommen.» Das klingt weicher als Obergrenze und lässt Interpretationsspielraum.
Die Grünen wollen nun wissen, wie Hasselfeldt Seehofers «unanständiges» Verhalten gegenüber Merkel findet. «Das Verhalten jedes Einzelnen von uns ist eine persönliche Entscheidung», sagt sie distanziert und beteuert dann, das Verhältnis zwischen Merkel und Seehofer sei «ein sehr gutes, ein sehr offenes». Gelächter. (DPA)