Die Schulen im Land stoßen bei der Integration von Flüchtlingskindern zunehmend an ihre Belastungsgrenze. «Die Kinder sind traumatisiert, manche können noch nicht einmal schreiben», sagte Michael Gomolzig, Landessprecher des Verbands Bildung und Erziehung (VBE). «Man sieht schon, dass sich die Regierung bemüht, aber wir werden genauso überrollt wie Polizisten und Lehrer auch.» Die Lehrer seien zwar hilfsbereit, fühlten sich aber alleingelassen. «Es gibt auch welche, die sagen: «Ich kann nicht mehr jetzt!»».
Das Land rechnet 2015 insgesamt mit rund 30 000 Flüchtlingskindern an den Schulen im Südwesten. In den Vorbereitungsklassen an den Grund- und Hauptschulen und den Klassen an Berufsschulen werden
die jungen Flüchtlinge auf den regulären Schulbesuch oder eine Ausbildung vorbereitet. Zu Beginn des Schuljahres gab es in Baden-Württemberg 1500 Vorbereitungsklassen und 300 Klassen an
Berufsschulen.
Viele Lehrer seien für den Umgang mit den traumatisierten Kindern aber nicht ausgebildet, sagte Matthias Schneider, Sprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). «Das sind Kinder, die noch vor zwei, drei Monaten teilweise in Kriegsgebieten waren oder schlimme Erfahrungen auf der Flucht machen mussten», stellte er fest.
Zwar seien Flüchtlingskinder sehr lernbegierig. «Gleichzeitig sind Kinder und Jugendliche durch den Alltag auf Flucht nicht mehr gewohnt, einem regelmäßigen Schulalltag nachzukommen», sagte er. Lehrer seien deshalb häufig überfordert. Schneider verlangt mehr Unterstützung durch die Schulsozialarbeit und eine engere Kooperation der Schulen mit Jugendhilfe und Beratungsstellen.
Auch das Kultusministerium erkennt die Herausforderungen in den Klassenzimmern. «Die Lehrer müssen mit allen Methoden arbeiten, zum Teil mit Zeichensprache und Händen und Füßen», sagte ein Sprecher. Lehrer seien zwar nicht für den Umgang mit traumatisierten Schülern ausgebildet. «Was Schule aber leisten kann, ist Alltagsstrukturierung, ein positives Klima zu gestalten und sensibel mit Erfahrungen der Flucht umzugehen», sagte er.
«Jeder rechnet mit dem guten Willen der Lehrer - die werden das schon irgendwie schaukeln -, aber sie haben noch die Inklusion, den neuen Bildungsplan. Da sind gerade viele Baustellen an der Schule», kritisierte der Bildungsexperte Gomolzig. Es geht nicht darum, einfach Deutsch zu vermitteln - sondern Deutsch als Zweitsprache. «Deutschlehrer unterrichten deutsche Kinder in der deutschen Sprache. Bei Flüchtlingen brauche ich ein ganz anderes pädagogisches Konzept», meinte er.
Die Zusatzqualifikation ist nach Angaben des Kultusministeriums aufgrund mangelnder Nachfrage in den vergangenen Jahren an den Hochschulen zurückgefahren worden. «Diese Kompetenz können wir nicht so schnell wieder ausbauen wie wünschenswert», sagte ein Sprecher. Studienanfänger stünden dem Arbeitsmarkt erst nach sieben oder acht Jahren zur Verfügung.
Außerdem: Unabhängig von der Qualifikation gibt es zu wenige Lehrer im Land. «Es ist eine erhebliche Herausforderung, geeignetes pädagogisches Personal zu finden», sagte ein Sprecher des Kultusministeriums. Zwar sei die Versorgung der Flüchtlinge an den allgemeinbildenden Schulen derzeit gewährleistet. Problematisch sei die Lage aber an den Berufsschulen. «Die 19- und 20-Jährigen, die noch berufsschulische und schulische Bildung benötigen, sind nicht alle zeitnah versorgt worden», räumte er ein. Dort sollen aber weitere Klassen eingerichtet werden.
Das Land wirbt bei Pensionären um Hilfe, stellte Hunderte Lehrer ein, der Nachtragshaushalt sieht viele weitere Stellen vor. Aber der Arbeitsmarkt ist gespannt. «Wir brauchen weitere Flexibilisierung - die befristete Beschäftigung von Pädagogen, die die Laufbahnvoraussetzungen nicht erfüllen», sagte ein Sprecher. Das Land will verstärkt Quereinsteiger an die Schulen holen. «Da kommen zum Beispiel auch studierte Germanisten zum Zuge.»
«Es war mehr als absehbar, dass angesichts der Vielzahl an teilweise schwer traumatisierten schulpflichtigen Flüchtlingen die Lehrerinnen und Lehrer rasch an Ihre Belastungsgrenzen stoßen», kritisierte der bildungspolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion, Georg Wacker. Lehrer alleine reichten nicht aus, er fordert ein Unterstützungssystem mit Schulpsychologen und Traumatherapeuten sowie ein ganzheitliches Förderkonzept für Flüchtlinge. «Der Kultusminister hat es bislang verpasst, die richtigen Weichen zu stellen», sagte Wacker.
«Man holt die letzte Reserve, weil man sieht, es brennt an allen Ecken und Enden», sagte Michael Gomolzig. Neben dem Personal seien aber auch die Schulräume begrenzt. «Entweder wir fahren den Standard runter und sagen, wir kürzen Pflichtunterricht für die Regelklassen», sagte Gomolzig. Das könnte aber zu Unmut gegenüber Flüchtlingen führen. «Oder wir stellen Lehrer ein, die wir nicht haben.» (DPA/LSW)