Millionen Selfies schwirren durchs Netz, die digitale Identität wird wichtiger als die reale Person. «Ich fotografiere mich, also bin ich», so könnte die Losung für das 21. Jahrhundert lauten. Der neue Leiter des für hochkarätige Fotoausstellungen bekannten NRW-Forums Düsseldorf, Alain Bieber, nähert sich in seiner fulminanten Debüt-Schau «Ego Update - Die Zukunft der digitalen Identität» dem popkulturellen Massenphänomen «Selfie».
Dabei macht der 36-Jährige auf humorvolle Weise auch an seiner eigenen Person klar, wohin die Reise geht: Er trägt ein pinkfarbenes Sweatshirt, das übersät ist mit seinen eigenen
Fotoporträts.
23 internationale Künstler, teilweise arriviert wie der britische Magnum-Fotograf Martin Parr, teilweise bekannt nur in der Netzgemeinde, hat Bieber zusammengestellt. Er schlägt eine gesellschaftskritische Schneise durch die Welt der Selfies, Webcams und Avatare. «Man wird zum Privatpaparazzi», sagt Bieber über den weltweiten Selfie-Boom. «Noch nie hat man sein Innerstes so nach außen gekehrt.» Es sei schon fast ein sozialer Druck, bei sozialen Netzwerken dabei zu sein und Inhalte zu produzieren. Das Selfie werde «eine Art Beweis meiner Existenz». Die Selbstdarstellungssucht oder vielleicht auch die Langeweile führen so weit, dass nicht nur Porträts, sondern auch millionenfach «Fuß-Selfies» im Netz zu finden sind.
Es geht auch analog: Prominente wie Gérard Depardieu, Karl Lagerfeld, Herbert Grönemeyer oder Jogi Löw haben sich auf Einladung des Fotografen Jonas Unger schon seit 2010 mit einer analogen Wegwerf-Kamera selbst abgelichtet. Auch die berühmtem Affen-Selfies des britischen Tierfotografen David Slater, die einen bis heute nicht gelösten Urheberstreit entfachten, werden gezeigt. Der Primat hatte Slater die Kamera entrissen und sich selbst abgelichtet. Das führt unweigerlich zu der Frage: Hat der Mensch vielleicht ein urzeitliches Selfie-Gen?
Die digitale Traumwelt kann auch ein Fluchtort vor der grauen Wirklichkeit sein. Der Düsseldorfer Oliver Sieber etwa porträtierte Cosplayer in Japan, die fantasievolle Kostüme der Figuren aus Mangas oder Anime-Filmen tragen, und stellt ihnen Fotos der tristen Hochhäuser, in denen sie leben, gegenüber. Auch in den Fotos von Robby Cooper klaffen Realität und virtuelle Welt oft drastisch auseinander - er stellte Porträts von Computer-Spielern und ihre teils heldenhaften Avatare nebeneinander.
Deutlich wird, dass das Selfie inzwischen ein eigenes visuelles Genre ist, das die Fotografie als Medium und Kunstform verändert hat. So hat der Rapper Mc Fitti sich als «#Selfiegott» in einer Bronze-Büste verewigt und diese in einen bunten Tempel gestellt. In die ausgestreckte Bronzehand kann man das Smartphone stecken und dann ein Selfie mit dem Selfiegott machen. «Man darf hier ausdrücklich fotografieren», sagt Bieber. Es gebe natürlich auch ein digitales Gästebuch.
Auch die Schattenseiten der digitalen Welt spart Bieber nicht aus. So kleben dicht an dicht Hunderte Fotos von Menschen des sogenannten «digitalen Proletariats» an der Wand. Die «Ein-Euro-Jobber des Netzes» erledigen digitale Kleinstarbeiten, die Computer noch nicht selbst verrichten können. Der italienische Hacker und Netzkünstler Guido Segni holte diese Menschen aus der Anonymität und ließ sie die ausgestreckten Mittelfinger in Richtung Kamera halten.
Mit einem dreiköpfigen Team und einem 100 000-Euro-Etat hat Bieber eine Ausstellung auf die Beine gestellt, die durchaus nicht nur für die Generation «Kopf unten» spannend sein dürfte. Er werde demnächst auch eine 83-jährige Frau mit ihren Freundinnen durch die Ausstellung führen, sagt Bieber. «Ich würde es auch toll finden, wenn die Kinder mal ihre Eltern ins Museum schleppen.»
Die Ausstellung läuft vom 19. September bis zum 17. Januar. (DPA)