Dem ersten Film wird bei einem Festival immer eine besondere Bedeutung beigemessen. Immerhin könnte dieser Eröffnungsbeitrag ein Indikator für die Stimmung der kommenden Tage sein. Das Filmfest Cannes setzte zuletzt meist auf opulente und hochkarätig besetzte Werke wie etwa «Grace of Monaco» mit Nicole Kidman. In diesem Jahr schlagen die Festspiele aber einen anderen Ton an – und setzten zum Auftakt am Mittwoch das Sozialdrama «La tête haute» an. Glamour gab’s natürlich auch: Die Grande Dame des französischen Kinos, Catherine Deneuve, spielt eine der Hauptrollen.
«Wir wollten den Menschen Tribut zollen, die im Hintergrund arbeiten», erklärte Regisseurin Emmanuelle Bercot am Mittwoch die Beweggründe für ihren Film über eine Jugendrichterin und einen jungen
Kleinkriminellen. Sie sah außerdem Parallelen zu den Terroranschlägen Anfang des Jahres in Paris. «Die Täter hatten alle schwierige Kindheiten», sagte sie in Bezug auf die «Charlie
Hebdo»-Attentäter. Vieles von dem habe sie auch bei ihren Recherchen bei Gericht und Sozialämtern gesehen. «Kein Kind wird böse oder barbarisch geboren.»
Deneuve, 71, betonte ebenfalls die politische und soziale Dimension des Films. Es sei wichtig, dass ein Festival wie Cannes mit einem Werk wie diesem eröffne. «Es ist für das Filmfest eine Möglichkeit, auf das schwierige vergangene Jahr in Europa und vor allem in Frankreich zu reagieren.»
Deneuve verkörpert in «La tête haute» eine Jugendrichterin. Der kleine Malony steht mit 7 zum ersten Mal vor ihr, als seine Mutter ihn völlig überfordert an die Behörden übergibt. Malony wird hin- und hergeschoben und gerät auf die schiefe Bahn. Er knackt Autos und rastet immer wieder höchst gewalttätig aus. Die Richterin und ein Sozialarbeiter versuchen ihm zu helfen, doch jeder neue Ansatz scheint fehlzuschlagen.
Deneuve strahlt in der Rolle der Richterin durchaus so etwas wie Mütterlichkeit und Verständnis aus. Der Fokus des Films aber liegt auf Malony. Der Jugendliche Rod Paradot verkörpert diesen Kleinkriminellen mit erstaunlicher Intensität. Sein Körper ist meist angespannt, innerlich brodelnd und zitternd bis in die Fingerspitzen, während seine Augen seine Verletztheit und Unsicherheit widerspiegeln.
Regisseurin Bercot gelingt es allerdings nicht, dem Thema wirklich neue Facetten hinzuzufügen. Da sind die viel zu junge Mutter, die hilflosen Sozialarbeiter, die verlorenen Kinder – das alles wirkt dann über zwei Stunden doch etwas zu schablonenhaft. Doch eine Chance auf die Goldene Palme zum Festivalende hat «La tête haute» sowieso nicht: Der Film läuft außer Konkurrenz.
Die internationale Jury muss stattdessen aus 19 anderen Beiträgen der kommenden Tage ihre Favoriten auswählen. Er werde versuchen, die Filme wie jeder andere Kinogast zu sehen, sagte Jurypräsident Joel Coen. «Man muss sich emotional darauf einlassen.» Sollte «La tête haute» tatsächlich einen Ausblick auf die Festivalauswahl geben, so dürften in Cannes noch so einige gesellschaftskritische Beiträge zur Auswahl stehen - und die Jury einige emotionale Erfahrungen durchleben. (DPA)